Der Evangelikalismus in den USA: Eine religiöse Welle, die Deutschland verblüfft

In Deutschland ist es für viele bereits eine unerträgliche Herausforderung, das Wort „Gott“ im öffentlichen Gespräch zu verwenden. In den Vereinigten Staaten hingegen gibt es eine religiöse Bewegung, deren Ausmaß und Macht in diesem Land kaum vorstellbar sind: der Evangelikalismus. Gastbeitrag von Meinrad Müller
Es ist wichtig zu verstehen: Evangelikale sind keine eigenständige Religion, sondern eine Bewegung, an der jeder Christ teilnehmen kann, unabhängig von seiner Konfession. Die überwiegende Mehrheit stammt aus dem protestantischen Lager, das in den USA in Tausende kleine Kirchen zersplittert ist. Evangelikal zu sein bedeutet nicht, einer bestimmten Kirche anzugehören, sondern mit voller Leidenschaft für den Glauben einzustehen – im Gottesdienst, im Alltag und auch in der Politik.
Rund 25 bis 30 Prozent der Amerikaner, also etwa 80 bis 100 Millionen Menschen, identifizieren sich mit dem Evangelikalismus. Es handelt sich nicht um eine Randgruppe, sondern um eine entscheidende Kraft im Land. Die Bewegung ist in den Städten der Ostküste ebenso präsent wie in den ländlichen Regionen des Mittleren Westens. Sie spiegelt sich in Universitätsstädten wider und thront in Kleinstädten. So entsteht ein dichtes Netz von Gemeinden, das zahlreiche Lebensbereiche durchdringt.
Wer sich engagiert, sucht Sinn, Halt und die Wärme einer gelebten Gemeinschaft. In Gottesdiensten singen Tausende, und die Musik erzeugt eine Energie, die den Sonntag überschreitet. Hauskreise, Jugend- und Seniorengruppen schaffen Nähe, die den Alltag erleichtert. Wenn jemand Arbeitslosigkeit erlebt, organisieren Freiwillige Einkäufe und Termine. Bei einer Geburt stehen Helfer vor der Tür, und Trauernde bleiben nicht allein, denn Besuche, Gebete und feste Rituale geben Kraft. Aus klaren Werten entsteht Orientierung, Verlässlichkeit und ein Gefühl von Zuhause. Dieser Geist wirkt wie ein Klebstoff, der Familien verbindet, Nachbarschaften stärkt und Gemeinden wachsen lässt.
Das Gesicht dieser Bewegung sind die sogenannten Megakirchen. In Houston, Texas, versammelt sich wöchentlich eine Gemeinde mit über 45.000 Besuchern in einer umgebauten Basketballarena.
In Deutschland ist so etwas kaum vorstellbar. Ein Gottesdienst, der die Größe eines Bundesligaspiels erreicht, zeigt, welche Anziehungskraft hier am Werk ist.
Die Evangelikalen verfügen über eine beeindruckende Infrastruktur. Hunderte christliche Radiosender und TV-Programme senden täglich. Universitäten und Colleges mit zehntausenden Studenten tragen die Bewegung weiter. Jährlich fließen Milliardenbeträge an Spenden in Kirchen, Medien und Hilfswerke. Prediger mobilisierten in der Vergangenheit mehr als 250.000 Menschen an einem einzigen Tag. Solche Zahlen sind sonst nur von Popkonzerten oder politischen Kundgebungen bekannt.
Es sind nicht nur Zahlen, sondern Erfahrungen. Wer sich einer Gemeinde anschließt, findet dort Sicherheit. Musik, Gebet, gemeinsame Mahlzeiten und soziale Projekte schaffen ein Miteinander, das den Sonntag überdauert. Die Gemeinschaft trägt durch Krisen, gibt jungen Menschen Orientierung und alten Menschen Halt. Sie ersetzt nicht die Familie, sondern verstärkt sie. Evangelikal zu sein bedeutet, in einem Netz von Beziehungen zu leben, das Sicherheit und Wärme verströmt.
Gleichzeitig sehen sich viele Evangelikale als Gegenbewegung an. Sie kritisieren das, was sie als Zerstörung traditioneller Werte empfinden: Gender-Ideologie, die Auflösung des Familienbildes, linksliberale Kulturkämpfe – all dies wird in den Kirchen offen angesprochen. Viele erleben ihren Glauben als Bollwerk gegen einen Zeitgeist, der ihnen feindlich erscheint. Sie haben keine Scheu, dies mit klaren Worten zu äußern.
In Deutschland wirkt das wie eine fremde Welt. Doch man kann Respekt empfinden: vor der organisatorischen Kraft, der Begeisterung und dem Mut, sich „für den Glauben auf die Hinterbeine“ zu stellen. Während hierzulande der Glaube oft ins Private gedrängt wird, prägt er in den USA ganze Städte, Medienlandschaften und politische Debatten.

Die AfD als Stimme des deutschen Niedergangs: 35 Jahre nach der Einheit

Politischer Verräter: Grün-Parteien als neue faschistische Bedrohung